Bloggen wie 2003: Ein Jahr ist um und ich werde ungeduldig

Mission Statement
Es ist Zeit persönlich zu werden. Bloggen wie 2003. Raus mit dem Kram. Für wen, warum? Egal. Hallo Welt, ich bins. Und hier gehts heute um die Zeit zwischen zwei Geburtstagen.

Im März 2020 bin ich ganz heimlich froh über den plötzlichen Ruck, der meine Arbeit, mein Familienleben und meine Freundeskreise verändert. Froh, vor allem aber neugierig. Heimlich, weil ich weiß, dass mir die Sonne aus dem Arsch scheint, im Vergleich zu den vielen, die sich gar nicht freuen können, die nicht arbeiten dürfen, die in kleinen Wohnungen mit kleinen Kindern vor großen Aufgaben stehen. Ich hingegen: sitze im Funkhaus, telefoniere und sage Sachen im Radio. Und weil drumrum vieles still steht, habe ich Zeit. Die „Lieder für Frieda“ werden mein Bastelkeller.

Dann geht es aufwärts, der Frühling vergeht, der Sommer kommt, mein innerer Reisemuffel ist ganz zufrieden über warme Tage im Garten, über kleine Ausflüge und wiederum: die viele Zeit. Im Vergleich. Und irgendwo ist da immer noch Hoffnung, dass aus allem Übel etwas Gutes entsteht und die Sonne am Ende tiefrot aufgeht am Horizont. Wir drehen das Video zu einem meiner neuen Lieder und in diesen kleinen Momenten fühlt sich alles richtig an.

Zitat der Stunde (Eminem – Hailie’s Song):
Sometimes it feels like the world’s on my shoulders
Everyone’s leanin‘ on me
‚Cause sometimes it feels like the world’s almost over
But then she comes back to me

Der Herbst beginnt. Im Kopf: eine gehörige Portion Zynismus, weil ja klar ist, dass die unbeschwerte Zeit vergeht, dass ein Winter kommt und mit ihm eine ganz neue Kälte. Doch hey, was soll sein, den Kindern geht es gut, den Alten soweit auch und ich sitze im Funkhaus, telefoniere und sage Sachen im Radio. Und wenn mich ein Kamerateam in die Außenwelt begleitet, dann ist diese Außenwelt so weit, wie Mecklenburg eben ist und wenn wir uns lachend die Ellenbogen reichen, fühlt sich alles gar nicht so falsch an.

Zitat der Stunde (Depeche Mode – Blasphemous Rumours):
I don’t want to start any blasphemous rumours

But I think that God’s got a sick sense of humour

And when I die, I expect to find him laughing

Mit dem Herbst vergeht die Motivation, etwas schaffen zu wollen außerhalb des Berufs. Das liegt auch daran, dass ich im Funkhaus neue Sachen machen kann, die mich begeistern, die mich zurückführen zu den Wurzeln. Regelmäßig. Drumherum sehe ich wunderbare Menschen kluge Sachen in die Welt setzen, ich grabe mich ein in Streams und den Youtube-Algorithmus, ich höre und schaue die Mediatheken leer und habe den Eindruck: ich habe außerhalb des Jobs dieser Welt nichts hinzuzufügen. Kein Lied, keinen Text. Ich sitze im Funkhaus, mir gegenüber Reporter, die ihre Geschichten erzählen und wenn das Thema gut ist und wir uns blind verstehen, fühlt es sich an, als habe alles Sinn und sei gut und nützlich und es gäbe kaum Grund zur Sorge.

Zitat der Stunde (Queen – Radio Ga Ga):
All we hear ist, Radio ga ga

Und in meiner kleinen Welt gibt es ja auch kaum Grund zur Sorge. Den Kindern geht es gut, die Alten halten die Ohren steif, ich darf arbeiten, ich kann zahlen, was gefordert ist. Immer noch tief drin die Gewissheit, danke Rio, wenn die Nacht am tiefsten, ist der Tag am nächsten. Halt ich mich halt an meiner Liebe fest. Zwei Gitarren und eine Ukulele hänge ich an die Balken im Dachgeschoss und kaufe eine Kamera. Wie in einem Lied von Manfred Groove halten meine Dämonen still, solange ich ihnen Sachen kaufe. Und kaufen geht ja noch. Und wenn der Paketbote klingelt, fühlt sich für einen Moment alles an wie immer.

Zitat der Stunde (Manfred Groove – Abgenutzt):
Vielleicht bin ich nur abgenutzt, von dieser ständigen Reise und dieser ständigen Scheiße.

Wer weiß heute schon, wovon er noch träumen soll
selbst die großen Ideen sind langsam gestorben
die Utopien sind weg, sind zu Protestphrasen geworden
Urban Gardening ist jetzt Eure Form der Revolution?
Ach, Halts Maul und pflanz nen Sellerie, ich will die Antwort gar nicht hören.

Es gibt keine Ideale mehr, außer immer alles richtig zu machen.
Und keine Standards mehr für richtig und falsch
Aber bitte keine Witze machen, außer sie tun keinem weh
schreib doch mal ein schönes Gedicht
für den Fall, dass das irgendjemand lesen will

Doch nichts ist wie immer. Im Dezember entdecke ich die leichte Unterhaltung, Instagram statt Twitter, ein uralter Adventskalender taugt, um täglich ein Winken aus der Welt zu provozieren, ein Winken hinein ins Dunkel vor den Frühdiensten. Und wenn die vorbei sind, müssen neue Bilder gemacht werden für den Kalender, damit die Welt weiter winkt und Herzchen verteilt. Die ständige Selbstobservation ergibt: etwas verändert sich. Doch wenn ich nicht hinschaue, sondern fleißig Herzchen verteile, um Herzchen einzusammeln, vergeht die Zeit fast, als wäre alles gar nicht so wild.

Wenn ich aber hinschaue, finde ich da so einen ungewohnten Mitteilungsdrang – reden als Selbstvergewisserung, reden, reden, reden, nicht zuhören, nur reden. Ich kommentiere bei Facebook und bereue es, ich sehe guten Menschen beim Irregehen zu und beginne fremden Menschen zu schreiben. Mein erstes Opfer: Manfred Groove. Wir tauschen Mails und insgeheim will ich in meiner privaten Tatenlosigkeit wenigstens teilhaben an der kreativen Energie anderer. Ein zweites Opfer – ich fürchte aus der gleichen Motivation heraus: Sven van Thom. Ihm fühle ich mich ebenso nahe, wie Manfred, auch von seinen Zeilen fühle ich mich verstanden. Auch ihm schreibe ich ungefragt meine Meinung und schnippse dabei mit dem Finger, wie ein ungeduldiger Grundschüler. Sieh mich! Ich bin doch hier! Und nur, wenn ich zu Fuß durchs Land gehe, die Kamera griffbereit, den Moment in ein kaum mittelmäßiges Bild zu zwingen, nur dann dreht sich die Welt noch, wie sie soll.

Zitat der Stunde (Sven van Thom – Darüber kann ich nicht lachen):
Mir war niemals etwas heilig. Ist noch gar nicht lange her.
Keine Randgruppe war sicher. Kein Unglück war zu schwer,
um nicht noch einen Witz zu machen
und nicht noch einen Spruch zu bringen.
Über alles konnt‘ ich lachen. Über alles konnt‘ ich singen.
Dass mein Geschmack vielleicht speziell ist
und ich nicht immer nett bin, wusst‘ ich,
doch seit ’ner Weile hab ich das Gefühl,
Deine Dummheit ist nicht mehr lustig.

Jetzt ist wieder Frühling. Ich bin zurück bei Twitter, schlechte Laune inklusive, doch nun ist es wenigstens meine eigene schlechte Laune. Denn das, was da verhandelt wird, betrifft mich, anders als sonst, immer öfter ganz direkt. Lange das Gefühl: ja, wir haben echt zu meckern, aber es ist für alle die erste Pandemie und auch die Leute am Ruder kennen nur das Ziel, nicht aber den richtigen Kurs. Doch diese Milde weicht mit jedem Tag, an dem die Befürchtung wächst, dass wieder ein Jahr vergeht, ohne dass wir das Ziel erreichen. Die Kinder zwar halten sich aufrecht, doch die Alten sind noch immer nicht geimpft. Gute, kluge Leute vergeuden ihre Energie in sinnentleerten Diskussionen und teilen eifrig ihre neuen Weltanschauungen mit mir. Wir kippen Wasser nach, obwohl der Abfluss noch verstopft ist. Und die Leute an der Lenzpumpe sind sehr, sehr müde. In meinem Telefon singen sie Seemannslieder.

Noch versuche ich zu trennen: wann ist diese Grundstimmung der eigenen Pandemie-Müdigkeit geschuldet, wann gibt es Grund sich aufzuregen. Und immer öfter der Eindruck: es gibt Grund sich aufzuregen. Was aber auch an der Pandemie-Müdigkeit liegen kann. Das Licht am Ende des Tunnels ist ein Zug und der Tunnel ist in Sand gegraben, der Lokführer besoffen, die Schienen rostig und was, verdammt, mache ich überhaupt in einem Tunnel? Gibts nichts Bekloppteres?

Zitat der Stunde (Twitter – Ursprung unklar):
Wenn alle immer nur meckern, können wir sowas wie Corona eben nicht mehr machen

Noch immer bin ich nicht der Pfleger auf der Intensivstation, noch immer nicht der Hinterbliebene an einem Grab, noch immer kann ich zahlen, noch immer habe ich Familie, Freunde, Arbeit, Fortbewegungsmittel und bin gesund. So gesund wie lange nicht sogar. Noch immer sollte ich mir Texte wie diesen verbieten, mit Blick auf all die anderen. Noch immer scheint mir die Sonne aus dem Hintern. Nur hinter den Augen, da ist es gerade etwas trüber als sonst.

Kurzbilanz 2020/2021:

Verloren:
Haare

Gewonnen:
Liebe

Gehalten:
Gewicht

Geredet:
zu viel und zu wenig

Gesungen:
zu wenig

Geraucht:
zu viel

Gekauft:
ja

Gereist:
nein

Projekte (umgesetzt):
diese Internetseite
Lieder für Frieda
„Mach mich neu“
den Podcast „Dorf Stadt Kreis“

Projekte (liegen geblieben):
Flachlandreporter
Hochbeet
Bewässerung
Youtube-Star
Instagram-Fame

1 thought on “Bloggen wie 2003: Ein Jahr ist um und ich werde ungeduldig

  1. Aenni says:

    Siri: spiel Keimzeit; „Kling Klang“.
    Ich sitze am Tisch und mache Notizen ins Handy. Milch, Drehnudeln, Rinderhack… noch mal kurz die App wechseln, wie war das Rezept? Gar keinen Bock noch einkaufen zu fahren.
    Ah. Insta. Oh. Thoms Story. Ach. Ein Blogposting.

    Jetzt hocke ich hier, habe auf Pause gedrückt. Gelesen. Geschluckt. Noch mal gelesen. Doller geschluckt.
    Ja. Es ist zeitweise dunkel da draußen. Und hier drinnen. Und der Tunnel, in den wir irgendwann 2020 rein gefahren sind ziiiieeeeht sich wie der Ruhrschnellwegtunnel freitags mittags. Ein einziges Gefühls-Stop-and-Go. Und die Arschgeigen mit ihren Verschwörungsmythen verstopfen die Rettungsgasse.

    Ich hab keinen Bock mehr auf früher zu warten. Auf Konzerte und Grillabende und Leichtigkeit und „lass‘ ma spontan noch… “.
    Und dann zwinge ich mich zu Demut, und dann gucke ich neidisch auf den Hund, der gar nix ahnt und ziehe los in die Natur, zu der man keine 1,5 Abstand halten muss und rede mir ein, dass wir dem Früher morgen wieder einen Tag näher kommen.

    Halt die Ohren steif, Alter.
    Es kommen wieder groovigere Tage. Versprochen.

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